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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 18.10.2001
Aktenzeichen: 5 Ws 303/01
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 120
Zur Aufhebung des Haftbefehls nach rund zweijähriger Untersuchungshaft wegen zu langer Verfahrensdauer
Beschluss

Strafsache

gegen A.-S.

wegen gewerbs-und bandenmäßiger Verleitung zur mißbräuchlichen Asylantragstellung, (hier: Haftbeschwerde des Angeklagten).

Auf die Beschwerde des Angeklagten vom 16. Juli 2001 gegen den Beschluß der II. großen Strafkammer des Landgerichts Dortmund vom 05. Juli 2001 hat der 5. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 18. 10. 2001 durch die Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und die Richterin am Landgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft beschlossen:

Tenor:

Der Haftbefehl des Landgerichts Dortmund vom 19. April 2001 wird aufgehoben.

Die Kosten des Haftbeschwerdeverfahrens, einschließlich der dem Angeklagten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.

Gründe:

I.

Dem Angeklagten wird mit der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Dortmund vom 29. April 1998 gewerbs- und bandenmäßige Verleitung zur missbräuchlichen Asylantragstellung in 29 Fällen zur Last gelegt. Wegen der Einzelheiten der Tatvorwürfe wird auf die Anklageschrift Bezug genommen. Wegen dieser Taten hatte sich der Angeklagte bereits aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Dortmund vom 6. Oktober 1997 - 80 Gs 1405/97 - in der Zeit vom 12. November 1997 bis zur Aufhebung des Haftbefehls am 26. April 1999 in Untersuchungshaft befunden. Am 19. April 2001, dem 7. Verhandlungstag der seit dem 22. März 2001 laufenden (erneuten) Hauptverhandlung, hat die II. große Strafkammer des Landgerichts Dortmund einen mit der Anklageschrift inhaltsgleichen Haftbefehl erlassen. Es ist der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO bejaht worden, weil sich der Angeklagte durch die Einnahme einer Überdosis des Schmerzmittels Tramal in einen Zustand der Verhandlungsunfähigkeit versetzt hatte. Mit Schreiben vom 31. Mai 2001 und vom 7. Juni 2001 hat der Angeklagte die Aufhebung des Haftbefehls vom 19. April 2001 beantragt. Sein Pflichtverteidiger, Rechtsanwalt L., hat darüber hinaus mit Schriftsatz vom 13. Juli 2001 beantragt, hilfsweise den Haftbefehl außer Vollzug zu setzen.

Am 5. Juli 2001 hat die Strafkammer beschlossen, dass der Haftbefehl vom 19. April 2001 aufrechterhalten bleibt; dessen Außervollzugsetzung hat sie abgelehnt. Wegen der Einzelheiten wird auf die Ausführungen Bl. 576 ff. Protokollsonderband II Bd 4 Bezug genommen.

Hiergegen richtet sich die Haftbeschwerde des Angeklagten vom 16. Juli 2001, der die Strafkammer durch Beschluss vom 26. Juli 2001 nicht abgeholfen hat.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Haftbeschwerde als unbegründet zu verwerfen.

II.

Die Haftbeschwerde ist begründet.

Zwar ist der Angeklagte der in der Anklageschrift und in dem Haftbefehl genannten Taten dringend verdächtig. Insoweit wird auf den Inhalt der Anklageschrift und die darin näher bezeichneten Beweismittel, die im vorliegenden Verfahren ergangenen oberlandesgerichtlichen Haftfortdauerbeschlüsse sowie auf den Nichtabhilfebeschluss der Strafkammer, wonach durch die Beweisaufnahme in der laufenden Hauptverhandlung die gegen den Angeklagten erhobenen Tatvorwürfe bisher bestätigt worden sind, verwiesen.

Angesichts der erheblichen Tatvorwürfe sowie der Gründe, die zur Annahme der Fluchtgefahr geführt haben (absichtliche Herbeiführung der Verhandlungsunfähigkeit sowie erhöhte Straferwartung nach Vernehmung der Zeugen Raif Hyseni, Latif und Hanice Zena) mag auch immer noch der Haftgrund der Fluchtgefahr gegeben sein.

Die allgemeinen Haftvoraussetzungen (vgl. § 120 Abs. 1 StPO) rechtfertigen jedoch jetzt - im Zeitpunkt der Senatsentscheidung - die weitere Fortdauer der Untersuchungshaft nicht mehr.

Das Bundesverfassungsgericht betont in ständiger Rechtsprechung, dass den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlichen und zweckmäßigen Freiheitsbeschränkungen ständig als Korrektiv der sich aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG ergebende Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilten Beschuldigten entgegen zu halten ist und das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse sich mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößert (vgl. u.a. BVerfGE 52, 152, 158 f m.w.N.). Dem trägt beispielsweise die Vorschrift des § 121 Abs. 1 StPO dadurch Rechnung, dass der Vollzug der Untersuchungshaft vor Ergehen eines Urteils wegen derselben Tat über sechs Monate hinaus nur aufrechterhalten werden darf, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigten. Das darin zum Ausdruck kommende Beschleunigungsgebot lässt nur in begrenztem Umfange eine Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus zu und ist dementsprechend eng auszulegen (vgl. BVerfGE a.a.O.). Es verdeutlicht als Ausprägung des im Rechtsstaatsprinzip enthaltenen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, dass der Vollzug der Untersuchungshaft zeitlich begrenzt ist, auch wenn die Strafprozessordnung eine absolute Obergrenze nicht kennt (vgl. KK-Boujong, 4. Aufl. (1999), § 120 StPO Rdnr. 8).

Ein solches Überwiegen des Freiheitsanspruchs des Angeklagten gegenüber der Sicherung des laufenden Prozesses und einer eventuellen Strafvollstreckung ist hier angesichts der knapp zweijährigen Untersuchungshaft deshalb zu bejahen, weil der Abschluss des Verfahrens durch die - vom Bundesgerichtshof als objektiv willkürlich bewertete - Verweisung der Sache an das Oberlandesgericht Düsseldorf verzögert worden ist und der Erlass des erstinstanzlichen Urteils nicht unmittelbar bevorsteht. Dazu hat der Vorsitzende der II. großen Strafkammer dem Senat auf Anfrage am 16. Oktober 2001 mitgeteilt:

"... ist am letzten Hauptverhandlungstag von der Kammer angeregt worden, das Verfahren gemäß §§ 154 II, 154 a II StPO zu beschränken. Die Staatsanwaltschaft hat zwischenzeitlich schriftsätzlich angekündigt, die insoweit erforderlichen Anträge am nächsten Hauptverhandlungstag stellen zu wollen (18.10.2001). Von Amts wegen ist noch die Verlesung verschiedener Urkunden, die Anhörung des Sachverständigen Dr. R. (18.10.2001) sowie die Vernehmung eines Zeugen (22.10.2001) beabsichtigt. Ob der Abschluss des Verfahrens - wie geplant - noch im Oktober dieses Jahres erfolgen kann, kann mit Blick auf die mögliche Ausübung von Verteidigungsrechten derzeit nicht beurteilt werden."

Eine Aufrechterhaltung des Haftbefehls vom 19. April 2001 war danach - unabhängig von der Höhe einer ggf. zu erwartenden Freiheitsstrafe - ausgeschlossen.

Die Kostenentscheidung beruht auf dem Rechtsgedanken der §§ 467, 473 StPO.

Ende der Entscheidung

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